9. Die Gräfin am Schwarzsee

In alter Zeit führte ein Weg von Mailand über den Beichgrat ins Lötschental, und von hier über den Lötschenpass nach Kandersteg. Der grosse Aletsch– und Langgletscher waren schöne Alpen und gehörten einer jungen Gräfin, die in einem Schloss am Schwarzsee wohnte und die mehr Gold und Juwelen besass, als der reichste Fürst im Land. Die Fenster des Schlosses spiegelten sich im See, und wenn der Bergwind die Oberfläche kräuselte, hörte die Gräfin in ihren Gemächern das leise Anrauschen der Wellen. Hinter dem Schloss dehnten sich Gärten mit Blumen, Sträuchern und Bäumen. Die junge Gräfin hatte Rehaugen, rosige Wangen und lange braune Haare. Mancher vornehme Herr hatte schon um ihre Hand angehalten, aber ohne Erfolg. Sie zeigte keine Lust zu heiraten. Um Ruhe vor den Freiern zu bekommen, liess sie die Tür zum Schloss bewachen und verlangte von jedem Bewerber, dass er eine von den Nelken pflückte, die vor ihrem Fenster blühten. Viele Edelleute versuchten in ihrer Verliebtheit die Mauern zu erklimmen und zu den Nelken zu gelangen, aber alle glitten an der glatten Fassade aus und fielen hinunter in den See, der keinen wiedergab.

Einst kehrte im Wirtshaus neben dem Schloss auch ein Edelmann aus Venedig mit seinem Sohn ein. Der Junge war gross und stark und ihm gefiel das Schlossfräulein so gut, dass er beschloss, um sie zu werben. Der Türhüter teilte ihm die Bedingungen mit, die zu erfüllen waren. Der junge Mann liess sich dadurch nicht abschrecken, denn der Preis, der ihm winkte, war zu verlockend. Der Vater, der vom gefährlichen Vorhaben seines Sohnes nichts wusste, setzte seine Reise fort, und der Jüngling beschloss, unverzüglich ans Werk zu gehen. Einen ganzen Tag lang übte er das Klettern an den senkrechten Felsen der Umgebung, dann suchte er an der Fassade des Schlosses die Stelle auf, wo er am leichtesten hinaufzukommen hoffte. Mit sicheren Griffen arbeitete er sich aufwärts, und das Glück schien ihm hold. Er schaute nicht zurück, sondern immer auf seine Hände, die fest zugriffen und den Nelken immer näher rückten. Schon hatte er drei Stockwerke erklettert, und nur noch eine kleine Spanne trennte ihn von den Blumen. Er schmiegte sich fest an die glatte Mauer, schöpfte Luft, hielt den Atem an und schwang sich mit einem kräftigen Ruck hinauf. Seine Hand erwischte eine der blutroten Nelken, und durchs Fenster sah er seine Angebetete. In ihren Haaren schimmerte kostbarer Schmuck, und ihre Augen funkelten wie zwei Sterne am Himmel.

Da ergriff ihn der Schwindel, er zitterte am ganzen Leib, seine Finger liessen los, und er stürzte hinab. Das Wasser klatschte und spritzte bis zum Dach hinauf, dann verschlang ihn die Flut. Als der Vater zurückkehrte und vom Unglück vernahm, stiess er einen schrecklichen Fluch aus. Ein Wirbelsturm fegte von den Bergen her, eine Steinlawine verschüttete das Schloss, der See wütete und verschlang all die kostbaren Schätze. Die Gärten wurden zu Steinhalden, die Alpen mit Gletscherfeldern überzogen, und der Silber– und Goldschmuck der Gräfin löste sich im Wasser auf und färbte den Grund des Sees schwarz. Diese Farbe hat ihm seinen heutigen Namen gegeben. Jahre später sahen Hirten und Sennen, die ihre Herden zum Schwarzsee hinauftrieben, eine weisse Schlange, mit einer goldenen Krone in der eine blutrote Nelke steckte, am Ufer herumkriechen. Ein Bursche wagte es, die seltene Schlange zu jagen. Sie liess sich fangen und sagte: „Ich bin die verwünschte Gräfin, die so viele Edelleute zu Grunde gerichtet hat. Meine Untaten muss ich im Schwarzsee abbüssen und darf mich nur alle zehn Jahre einmal zeigen. Erlösen wird mich nur ein Edelmann, der mich dreimal auf den Mund küsst!“ Mit diesen Worten verschwand sie im Wasser des Sees. Die Strasse über den Beichgrat ist längst verödet und von Schnee und Eis überzogen. Es ziehen keine Edelleute mehr über den Weg, und die weisse Schlange wartet heute noch auf ihre Erlösung.

Der Goori meint zur Sache: Nicht in jeder Schlange steckt eine verwunschene Gräfin...