4. Der Hansjosab zur Tärra
Vor noch nicht allzu langer Zeit musste der alte Michael von Weissenried jeden Abend „zur Tärra“ sein Vieh füttern. Eines Tages bat der Michael seinen Nachbarn, den Hansjosab: „Könntest du mir bitte heute Abend mein Vieh füttern? Ich gehe nämlich morgen auf den Katharinen-Markt nach Siders und muss mich darum in aller Herrgottsfrühe auf den Weg machen.“
Der Hansjosab war gerne bereit, seinem Nachbar zu helfen und begab sich beim Eindunkeln, gut ausgerüstet, zur „Tärra“. Das „Hirtun“ ging rasch und zügig vonstatten, und bald darauf legte sich der Hirt müde ins Stroh. Kaum war er eingeschlafen, da glaubte er, jemand habe die Haustüre geöffnet. Im nächsten Augenblick ging auch die Stubentür auf und „Etwas“ stand an seinem Bett.
Wie zur Abwehr streckte der Hansjosab seine rechte Hand aus. Eine andere, eiskalte Hand packte sie und drückte sie für kurze Zeit kräftig und nach der ersten ergriff eine zweite, dann eine dritte und nach dieser noch eine und dann noch eine - wohl mehr als vierhundert kalte Hände drückten dem geschockten Mann die Hand. Ohne dass er sich hätte bewegen oder in der Dunkelheit jemanden erkennen können. Als das „Letzte“ hinausgegangen war, wurden die Türen wieder geschlossen und der Hansjosab versuchte, nun endlich zu schlafen. Seine Hand war gletscherkalt geworden und am Morgen konnte er darum das Vieh nur mit Mühe füttern und melken.
Als er den Michael das nächste Mal im Dorf traf, sagte er zu ihm: „Du hättest mir schon sagen dürfen, dass dein Häuschen zur Tärra nicht dir alleine gehört... Ich habe nämlich gruseligen Besuch erhalten!
„Ja, das stimmt! Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass die armen Seelen an den Quatembertagen dort vorbeigehen, wenn sie vom Gletscher her kommen. Aber lass es dich nicht gereuen, dass du die Armen hast deine Wärme spüren lassen; sie werden es dir schon einmal vergelten.“
Und damit war die Geschichte erledigt.
Der Hansjosab hatte das unheimliche Erlebnis und seine Begegnung mit den kalten Gesellen zur „Tärra“ schon längst vergessen, als er einmal auf dem Weg zum Hirten im Mittelwald von einer Lawine erfasst wurde. Als diese ihn zu bedecken drohte, packte ihn eine eiskalte Hand und zog ihn aus den Schneemassen, so dass er immer über der Lawine zu schweben glaubte. Als er dann unverletzt, aber sturm im Kopf und tüchtig durchgebeutelt, auf dem Lawinenkegel im Schnee sass, kam ihm plötzlich wieder in den Sinn, was ihm Michael vor vielen Jahren beteuert hatte: „Lass es dich nicht gereuen; die armen Seelen werden es dir vergelten und dir vielleicht auch einmal die Hand reichen.“
Der Goori meint zur Sache: Hilfsbereitschaft lohnt sich früher oder später immer ...