7. Der Tote im Keller des Moossteins
Früher waren auch höhere Regionen des Lötschentals ganzjährig bewohnt, so etwa die „Bleetza“ oder die „Bliejienda“, blühende Alpen unter den Tellispitzen. Unterhalb des Dorfes „zr Bliejiendun“, da wo heute der Höhenweg vom Schwarzsee her zur Tellialp führt, steht ein bemooster Stein, „Moosstein“ genannt. Er sieht aus wie eine der Hütten der Tellialp, und bei diesem Stein lebte in alter Zeit ein kinderloses, älteres Ehepaar, zusammen mit einem geldgierigen Knecht.
Die Frau war lebenslustig und ging gern und oft zu Besuch bei ihren Nachbarinnen in der „Balmu“ und im „Grryn“. Der Mann musste des Öfteren hören, dass seine Frau eine fürchterliche Klatschbase, eine richtige „Rätscha“, sei. Er wollte dieses Gerücht nicht glauben und beschloss deshalb, eine Probe aufs Exempel zu machen. Er sagte eines Abends zu seiner Frau: „Du Schatz, ich habe etwas verbrochen, etwas ganz Schreckliches.“ „Was denn, um Gottes willen?“ fragte die Frau. „Versprich mir, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten, dann gestehe ich dir alles.“ Die Frau, zittrig wie Espenlaub und gespannt wie eine Wäscheleine, schwor: „So wahr ich lebe! Und so wahr unser Häuschen steht! Ich schweige wie ein Grab!“
Nun gestand der Mann, er habe einen umgebracht und im Keller versteckt... Am nächsten Morgen trieb es die bedrückte Frau hinüber ins Telli zur Freundin. Sie setzte sich an den Tisch, starrte zur Decke und schwieg. Die Nachbarin spürte, dass etwas über die Leber der Klatschfrau gekrochen war und fragte: „Was hast du denn heute?“ „Etwas, das ich keinem verraten darf!“ Weil aber die Nachbarin heilig gelobte, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, erfuhr sie, dass der Mann einen erdrosselt und erschlagen und im Keller begraben habe. Wie ein Buschfeuer verbreitete sich das Geheimnis nun von Mund zu Mund, von Dorf zu Dorf – immer unter der strengen Bedingung, ja kein Wort davon zu verraten.
Es waren kaum drei Tage vergangen, stand der Talschaftsmeier mit den Geschworenen vor dem Haus des mutmasslichen Mörders, um ihn zu verhaften. Weil sie den Bauern, der Tannen und Lärchen wie Holzbündel auf der Achsel nach Hause trug, fürchteten, waren sie froh, dass der Knecht vor der Hütte sass. Sie drückten ihm zwei Taler in die Hand und befahlen ihm den Mörder in der Stube zu fesseln. Der Knecht, strahlend über Besitz des Geldes, ging und wusste mit dem nichtsahnenden Bauern zu wetten und zu spielen, bis dieser an Händen und Füssen gefesselt war. Auf einen Pfiff des Knechts traten die Herren in die Stube und fragten den Mann, ob es wahr sei, dass er einen erschlagen habe. „Jawohl, das stimmt,“ gestand der Mann mit kräftiger Stimme: „Ich will euch den Toten zeigen.“ Er ging mit den Hütern der Ordnung in den Keller und zeigte ihnen den Erschlagenen.
Es war ein alter, ausgemergelter Ziegenbock, den er geschlachtet und eingesalzen hatte. Die wichtigen Herren staunten, schimpften, und fluchten. Der Bauer beruhigte sie und sagte: „Damit ihr nicht ganz umsonst geschwitzt habt und hier heraufgekommen seid, gebe ich euch einen guten Rat: Vertraut nie etwas einem Waschweib an – und sollte es die eigene Frau sein – was nicht unter Leute kommen darf!“ Zum Knecht sagte er: „Geh du mit diesen Herren. Heute hast du ihnen geholfen, nun sollen sie von heute an dir helfen!“
Darauf verliess der Bauer seine heimelige Hütte und sein meineidiges Weib. In der Nacht rollte von den Tellispitzen ein fürchterliches Gewitter heran. Die wild gewordene Gisentella brachte unaufhörlich Steine und Geröll über die Weiden und anstelle der Hütte stand am anderen Morgen nur noch ein Fels, über den im Lauf der Jahrhunderte dichtes Moos wuchs – wie ein Schleier des Vergessens. Bis zum heutigen Tag wird der Stein „Moosstein“ genannt.
Der Goori meint zur Sache: Nichts verbreitet sich schneller und zuverlässiger als ein „absolutes“ Geheimnis ...