5. Das Hexenloch im Weritzstein
Im vorletzten Jahrhundert soll in Frankreich eine Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sein, die als brennende Fackel noch gestanden hatte, anno 1808 die grosse fürchterliche Lawine am Tännbachhorn im Lötschental losgelassen zu haben. Diese einmalige Riesenlawine ist heute noch Talgespräch, besonders an langen Winterabenden, und man sagt, dass sie den Umfang von sieben Stunden gehabt und achtzehn Firste gebrochen habe. Selbst auf der gegenüberliegenden Talseite schlug sie den Wald weit hinauf kahl.
Die Hexe tat dies unerhört böse Werk aus Rache und Liebeskummer. Schon lange Jahrzehnte hatte sie hier oben auf der Weritzalp gehaust und gelebt. Eines Tages schaute ein netter Dorfbursche aus Wiler durch Steinloch herein, wurde gwundrig und gsprächig und verliebte sich prompt in sie. Immer fleissiger besuchte der Geselle nun die Frau im Sommer als Senn, im Herbst als Jäger und im Winter als Heuzieher und blieb oft tagelang bei seiner Liebsten. Die Hexenjungfer machte fleissig und heimlich ihre Gegenbesuche in Wiler auf der Horloiwinu, wo ihr Freund und Verehrter wohnte.
Den scharfen und wachsamen Blicken der Nachbarn entgingen diese verborgenen Besuche nicht, und bald wurde die seltsame, fremdartige Frau von allen nur noch die „Horloiwinuhäx“ genannt; von den Erwachsenen gemieden und von den Kindern gefürchtet. Im ganzen Tal wuchs von Tag zu Tag, und von Jahr zu Jahr bei vielen Leuten der Verdacht , die komische, geheimnisvolle Jungfer von Weritzen sei, wie auch andere schon, eine Hexe und sie stehe sicher mit dem Teufel im Bund. Sie bringe Krankheit und Pest über das Land und die Leute und sie verstehe es auch, Unwetter zu entladen und in den Bergen Lawinen loszubrechen. Der Liebhaber verhielt sich vorsichtig und hörte dem Klatsch und dem Gerede bloss zu. Allerdings wurde er immer unsicherer und begann allmählich auch am schlauen Weritzweib zu zweifeln. Doch bevor er ihr die Freundschaft kündigte, wollte er sich selbst vom mutmasslichen Hexenwerk seiner Freundin überzeugen.
Darum stieg er an einem schönen Sommertag, während alle Leute fleissig mit dem Einbringen des Heues beschäftigt waren, hinauf zur Weritzalp . Er trat in die kühle Wohnung der Geliebten ein, und von hier aus schauten die beiden vergnügt und faul dem emsigen Treiben der Männer und Frauen zu, die an den schönen, oberen und niederen Matten heuten. Nach einer Weile des Schauens und des Plauderns sagte der Geliebte scheinbar beiläufig: „Mich nähme es wunder, was all die Leute jetzt machen würden, wenn es auf einmal so tüchtig zu regnen und zu gewittern anfinge“. Die Frau entgegnete schelmisch lachend: „Diesen Gwunder kann ich dir stillen, und das Rätsel kannst du selbst lösen. Geh hinauf in die Kammer! Da findest du ein Krüglein mit Wasser. Schütte daraus ein paar Tropfen auf den Boden! Aber sorgfältig bitte!“
Der Bursche ging in die Kammer, und schüttete fast den ganzen Inhalt aus, weil ihm der Krug aus den Händen fiel. Kaum war er zurück in der Kammer, hörte und sah er, wie vom Petersgrat her ein entsetzliches Gewitter nahte und sich blitzend und donnernd im Tal entlud, so dass heillose Angst die arbeitenden Menschen ergriff, und selbst der mutigste Mann fluchend und betend in einer nahen Scheune Schutz und Schirm suchte. Dieses Unwetter hat bleibende Schäden angerichtet. Aus den schönsten Matten wurden wüste Matten. Der Jüngling war geheilt und befreit von Liebessorgen. Die Hexe wurde des Tales verwiesen, und ihr Hab und Gut wurde auf der Wilerzelg verbrannt.
Der Goori meint zur Sache: Nicht jedes verrufene Weibsbild muss eine Hexe sein ...